- Todeserfahrungen in der Musik: Konzentrationslager, Atomtod, ewiges Licht
- Todeserfahrungen in der Musik: Konzentrationslager, Atomtod, ewiges LichtDas Verhältnis von Musik und Tod wird vom zeitgenössischen Denken unterschiedlich gedeutet. Der These von Ernst Bloch, die Musik öffne für den Tod, stehen andere Überlegungen gegenüber, etwa die, dass einzig die Musik den Triumph über den Tod auszudrücken vermöge, oder jene, dass die Musik den Schein von Dauer über den Tod hinaus erzeuge. Die gravierende Kulturabhängigkeit von Kodes und Konventionen in der Musik im Verhältnis zum Tod wird deutlich an der rasenden musikalischen Aktivität, wie sie etwa in schwarzafrikanischen Kulturen bei diesem Anlass zur Vertreibung der Geister entfaltet wird - ganz im Gegensatz zu den langsamen Tempi in europäischer Musik.In zahlreichen Werken seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind atomare Bedrohung und das Inferno der Konzentrationslager mit musikalischen Mitteln thematisiert worden, beginnend mit Arnold Schönbergs »Ein Überlebender aus Warschau« (1947) über Krzysztof Pendereckis »Threnos. Den Opfern von Hiroshima« (1959), Luigi Nonos »Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz« (Gedenke dessen, was sie dir in Auschwitz angetan, 1965) bis hin zum apokalyptischen Oratorium »Inwendig voller Figur« (1970/71) von Klaus Huber.In musikalischer Hinsicht spiegeln diese Stücke einen Stand des Komponierens, der je nach Standort des Betrachters als »pluralistisch« oder als »uneinheitlich« apostrophiert werden kann: Zwischen traditionellem Orchester- und Vokalklang und synthetischer Geräuschproduktion gibt es die verschiedensten Übergangsformen; serielles-konstruktives Denken kontrastiert mit der Hinwendung zum Klangergebnis, Streicher-Cluster stehen neben der elektronischen Verfremdung von Sprachklängen.Das 1967 in Auschwitz uraufgeführte »Dies Irae« des Polen Krzysztof Penderecki versucht das Auschwitz-Thema in seiner Symbolkraft musikalisch zu deuten. In der Klage des ersten Teils (»Lamentatio«) exponiert eine einzelne Frauenstimme mit lateinischem Text das grauenhafte Bild von Kinderleichen in den Krematorien; extreme Intervalle wie große Sept und kleine Non sind mit Halbtonglissandi verbunden. Demgegenüber verzichtet Luigi Nono in seiner Bühnenmusik für Stimmen und Tonband zum Theaterstück »Die Ermittlung« von Peter Weiss auf jedes traditionelle Instrumentarium; stattdessen werden auf Tonband aufgenommene Vokal- und Instrumentalklänge elektronisch deformiert. Kurzatmig heulende Melodiepartikel werden von einer »Stahlküche an Geräuschen« verätzt, verfremdet und verschlungen.Mit dem Tag von Hiroshima, dem 6. August 1945, hat ein neues Zeitalter begonnen, ein Zustand permanenter Bedrohung durch die nuklearen Waffenarsenale. In den Jahren des Kalten Krieges, als das Schlagwort vom »Gleichgewicht des Schreckens« kursierte, gab es die furchtbare strategische Überlegung, einen begrenzten atomaren Krieg einem Krieg mit konventionellen Waffen vorzuziehen. Schon seit 1952 testeten die Großmächte Wasserstoffbomben, deren Zerstörungskraft den Atombomben weit überlegen war. Zeitgleich mit einer bedrohlichen Steigerung des Rüstungswettlaufs in den Jahren 1960 bis 1962 nach dem Scheitern der Pariser Gipfelkonferenz entstand im elektronischen Studio des Westdeutschen Rundfunks in Köln eine vierkanalige »Komposition für Sprecher und Sprachklänge« von Herbert Eimert, Pionier der Elektronischen Musik: »Epitaph für Aikichi Kuboyama«. Der Sprechtext, die Grabinschrift für das erste Strahlungsopfer der Wasserstoffbombe von 1954, wird durch verschiedene elektronische und mechanische Verfahren klanglich moduliert und teilweise bis zur Unkenntlichkeit deformiert: Bandschnitte, Rückwärtslaufen, Beschleunigung, Verhallung, Filterung, Verzerrung, Beschneiden der Spektren und Rückkoppelung liefern den Zuhörer dem Geräuschcrescendo der vier Lautsprecher aus. Vor dem Hintergrund der vielen Kompositionen zum Thema des gewaltsamen Massentodes lassen sich musiksprachliche Formulierungen der Bitte um »ewiges Licht« und um »ewige Ruhe« in zeitgenössischen Requiem-Vertonungen kaum anders denn als Versuch deuten, die Spannung zwischen dem »Nicht des Lichts« und dem »Licht des Nichts« Klang werden zu lassen. So können aus Grenzerfahrungen in der Moderne neue religiöse Erfahrungen hervorgehen. Zu den Zeugen solcher Grunderfahrungen gehören prophetische Denker und Dichter, Liedermacher und Rockmusiker genauso wie die Komponisten der unterschiedlichsten Requiem-Vertonungen, von Arvo Pärt bis Andrew Lloyd Webber.»Lux aeterna« von György Ligeti (1966) über den Communiotext der lateinischen Totenmesse für 16-stimmigen gemischten Chor a capella präsentiert sich dem Hörer als fluktuierendes, weitgehend dissonantes Klangband, welches nur an einzelnen Stellen den Text verstehen lässt. Die Singstimmen setzen keinen deutlichen Anfang, und am Schluss verlöschen sie bis in die Hörbarkeitsgrenze. Nicht Kontraste, Einschnitte, Bewegung bestimmen das musikalische Geschehen, sondern permanente Farbwechsel in den clusterähnlichen Klangflächen der kanonartig verschlungenen 16 Stimmen. Bei der rhythmisch-asynchronen Gestaltung der 16 Stimmen verflüchtigt sich der Wort- und Sinnzusammenhang des formelhaften liturgischen Textes in Vokalreihungen, die ihn ganz neu hören lassen, Silbe für Silbe, Wort für Wort. Die Aufhebung der Sprache als Sinnzusammenhang zielt auf jenes Schweigen, welches das Einsetzen »aus der Ferne« zu Beginn und das auskomponierte Verstummen am Schluss evozieren. Das Stück endet nicht, sondern verschwindet in der Ferne, aus der es kam. Ist es nun, wie verschiedene Interpreten meinen, die »wahre Ewigkeit des Leidens«? Geht es um die Widerspiegelung sozialen Unrechts oder um eine Abkehr von gesellschaftlicher Heteronomie? Auch in dieser Hinsicht verflüchtigen sich die Konturen des Stücks in den Nebeln der Mehrdeutigkeit.Völlig anders als dies sphinxhafte »Lux aeterna« Ligetis ist das »Lux aeterna« aus dem Requiem (1993) Hans Werner Henzes unmissverständlich dem weltlich-humanistischen Bereich zugeordnet: »Das ewige Licht, von dem in der Liturgie die Rede ist, leuchtet nicht einem Verblichenen, sondern es leuchtet für uns und bezaubert uns und inspiriert uns und wärmt uns und gibt uns die Kraft zu leben, zu atmen. Es geht um das Leben, es geht nicht um das Sterben«, äußerte der Komponist anlässlich der Uraufführung. »Impressionistisch, fast pointillistisch« sollten die Musiker des Ensembles die Partitur realisieren. In der Partitur des »Lux-aeterna«-Satzes hatte Henze handschriftliche Zusätze gemacht wie »Sommerlicht in der Kindheit«, »Moon light« oder »Zikaden«.Prof. Dr. Hartmut MöllerDanuser, Hermann: Die Musik des 20. Jahrhunderts. Sonderausgabe Laaber 1996.Vogt, Hans: Neue Musik seit 1945, bearbeitet von Maja Bard u. a. Stuttgart 31982.
Universal-Lexikon. 2012.